Dienstag, 8. September 2009

schon mal die hälfte

ob ein blog die plattform für ein interview ist - keine ahnung; als ich aber von den dreharbeiten zu einem beitrag über die entwicklung von kindern zu aggressivem verhalten zurückkam, war ich auf vielfache weise beeindruckt: von der mutter, die uns ihr kind und die gemeinsamen probleme vorgestellt hat, von den freundlichen aber auch unzweideutigen erzieherinnen, von bereitschaftspflegeeltern, deren herzen groß genug für andere als die eigenen kinder sind und von einer frau, die ohne schnörkel über ursachen von aggresivem verhalten bei kindern und jugendlichen sprach. elke lübbermann-landscheidt ist psychologin und leitet die erziehungsberatung vest des kreises recklinghausen. mit der these, dass gewalttätige, aggressive kinder immer selbst opfer waren, geschlagen oder vernachlässigt wurden, ihre bedürftigkeit auf diese weise zu stillen suchen, räumte sie in dem folgenden gepräch gründlich auf.

vernachlässigung ist ein Problem, was sind andere?

vernachlässigung hat sicher ganz gravierende auswirkungen auf die entwicklung der kinder. doch wenn es um aggressive verhaltensweisen und antisoziale entwicklungen bei kindern und jugendlichen geht, dann ist das nur eine seite der medaille. der kern aggressiven verhaltens entsteht in der frühen kindheit ab dem 2., 3. lebensjahr, wenn kinder den eindruck bekommen, oder die erfahrung machen, dass sie durch aggressives verhalten zum erfolg kommen. ein beispiel: das kind soll abends ins bett hat aber keine lust; es schimpft, es schreit und schließlich geben die eltern nach: na gut, noch fünf minuten. wenn das gelegentlich passiert, ist es nicht schlimm. dieses nachgeben wird aber zum problem, wenn es öfter vorkommt. in belasteten familien gibt es pro tag fünf bis sieben solcher situationen. die folge ist, dass kinder dieses verhalten dann richtig einüben. wenn sie im alter von zwei jahren damit anfangen und die eltern nicht gegensteuern, dann haben sie bis zur einschulung bis zu 10000 trainingseinheiten absolviert. aggressives verhalten ist dann ein stabiles persönlichkeitsmerkmal. ob die eltern es sich einfach machen, kein interesse an ihren kindern haben, das kind ruhig stellen wollen, weil es sie stört, oder glauben, es sei gut für die entwicklung des kindes ist dabei völlig egal; sie lassen damit eine gefährliche entwicklung zu.

nun ist es etwas wollen aber nicht bekommen doch ein elementarer konflikt zwischen eltern und kindern – wie sollte der richtig gelöst werden?

immer weniger eltern können mit diesem problem sicher und souverän umgehen. sie haben oft keine klaren regeln in den familien, alles steht zur diskussion. gut wäre es, wenn eltern klar und eindeutig sagen, was sie möchten, wenn sie kindgerechte anforderungen stellen und darauf achten, dass diese erfüllt werden. das heißt nicht, dass kinder eingeschränkt werden sollen. sie müssen die möglichkeit haben, sich zu entfalten. aber es muß klar sein, dass eltern die regeln aufstellen und deren befolgung auch durchsetzen. das kann man nicht den kindern überlassen. doch in den letzten jahren und jahrzehnten ist die selbstverständlichkeit verlorengegangen, mit der noch unsere großeltern ihre kinder erzogen haben. es gibt ein fülle unterschiedlicher konzepte, ansichten und methoden, was zur folge hat, dass immer mehr eltern überhaupt nicht mehr wissen, was für ihre kinder gut ist. das kann man aber lernen. wir in der erziehungsberatung haben weit über 3000 familien, die wir pro jahr beraten, wir veranstalten auch elternschulen.




wie müssen sich erzieher gegenüber auffällig aggressiven kindern verhalten?

erzieher müssen sehr eindeutig sein, sie müssen klare regeln aufstellen, den tagen in kindergarten oder schule wiederkehrende strukturen, ein gerüst geben. sie müssen aber auch sehr feinfühlig auf die bedürfnisse der kinder, ihre stimmungen und die situationen eingehen. eines allerdings müssen sie immer vor augen haben: um des lieben friedens willen einzulenken, ist eine gefährliche sache. denn was lernt das kind? es macht immer wieder die erfahrung: ich muß nur lange genug laut genug und unverschämt genug sein, dann bekomme ich was ich will. neben der erziehung zur aggressivität ist damit aber auch ein anderes großes entwicklungsrisiko verknüpft. diese kinder werden sich niemals verantwortlich oder schuldig fühlen, es sind immer die anderen: wenn sie in der schule nicht mitkommen, ist der lehrer schuld, weil er den stoff nicht gut erklärt hat; dass sie nicht aufgepasst oder zuwenig gelernt haben können sie nicht akzeptieren. wenn sie etwas nicht erledigt oder verpasst haben sind die eltern schuld, weil sie sie nicht daran erinnert haben. es ist eine subtile methode, denn diese kinder haben noch etwas gelernt: wenn ich um eine anforderung herumkommen will, dann muss den anderen da attackieren, wo er persönliche schwachstellen hat, wo er verletzbar ist; den lehrer in seiner didaktischen kompetenz, mutter und vater in ihrer fürsorge oder den stiefvater in seinem wunsch nach nähe: du hast mir nichts zu sagen. das sollten eltern, erzieher und lehrer wissen und die angriffe dieser kinder nicht persönlich nehmen. denn in diesem moment wollen die kinder nur ihren willen durchsetzen, koste es was es wolle. da ruhig zu bleben ist sicher sehr schwer, aber man kann das üben und lernen.

wie schaffe ich es, trotzdem mein kind gewaltfrei dahin zu bringen, dass es tut, was ich möchte?

die möglichkeiten sind unterschiedlich und hängen auch vom alter ab. ich kann etwa ein kleines kind ablenken, indem ich etwas anderes erzähle oder ein lied singe. ein beispiel: das kind will seine schuhe nicht anziehen; ich fange an zu singen und nutze die ablenkung, um den schuh anzuziehen. oder ich gehe gar nicht auf die weigerung ein, sondern frage welchen schuh ich zuerst anziehen soll – es ist egal, was das kind sagt, wir kommen unserem gemeinsamen ziel um 50 prozent näher. bei älteren kindern genügt es vielleicht schon, freundlich aber deutlich klar zu machen, was man möchte. solange das kind sehr klein ist, kann ich es auch hochheben und etwa in sein zimmer tragen. bei einem 14- oder 15jährigen kann ich das nicht mehr. es geht also darum, es frühzeitig richtig zu machen. denn die erziehung zu aggressivem verhalten hat noch eine weitere folge. diese strategie ist so erfolgreich, dass sie das kind daran hindert, andere, prosoziale verhaltensmuster zu erlernen. denn von selbst und ohne notwendigkeit kommt ein solches kind nicht darauf, höflich oder freundlich zu sein, zu fragen oder kompromisse zu schließen. es muß dafür anleitung und unterstützung erfahren.

sind solche kinder weniger als andere in der lage, sich in andere hineinzuversetzen, mitgefühl zu empfinden?

aggressives verhalten halte ich weniger für ein problem mangelnder empathischer fähigkeiten. denken sie an einen jugendlichen, der andere mobbt, schikaniert oder psychischen druck auf sie ausübt. der kann sich phantastisch in sein opfer hineinversetzen, deshalb ist er so erfolgreich. ein mangel an empathischen fähigkeiten bedeutet nicht, dass ein mensch aggressiv reagiert.


das faltblatt der erziehungsberatung vest ist hier abrufbar, der fernseh-beitrag in der wdr-mediathek


zu dem thema empfiehlt elke lübbermann-landscheidt das buch: „wenn schüler streiten und provozieren – richtig intervenieren bei antisozialem verhalten“ des schulpsychologen dr. karl landscheidt, mit dem sie auch verheiratet ist (verlag reinhardt, münchen, ab 26,90 €)

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