Mit mir sprach Karlheinz Köpke. Das
war ein Sprecher der tagesschau, der
Sprecher der tagesschau, es war 1965, ich war vier und
eigentlich hätte das nicht sein dürfen, denn Karlheinz Köpke war
nur auf einem Foto in einer Zeitschrift, die ich mir ansah, als ich mit
Masern und hohem Fieber im Bett lag. Ich will mal glauben, dass die
schwere Erkrankung bei mir keine nachhaltigen Folgen hatte, auch wenn
mir meine Schwäche für Eiscreme mitunter pathologisch erscheint.
Aber es waren wohl ernste Tage damals und außer an den sprechenden
Karlheinz Köpke in der Zeitschrift erinnere ich mich noch an das
sorgenschwere Gesicht meiner Mutter, die sehr oft und sehr lange an
meinem Krankenbett saß, das hohe Fieber mit Wadenwickeln behandelte
und den Ausschlag versorgte.
Zu der Zeit gab es aber noch eine
andere Krankheit, die allgemein mehr Aufmerksamkeit bekam:
Kinderlähmung. 1952 hatte es allein in Deutschland über 10 000
Krankheitsfälle gegeben und die Zahl derer, die sich neu
infizierten, in Eisernen Lungen lange Zeit beatmet werden mußten
oder nur an Krücken gehen konnten, nahm langsamer ab, als es
möglich gewesen wäre. Gegen die Impfung mit der Spritze gab es bei
vielen Vorbehalte. Den Durchbruch brachte die Schluckimpfung auf dem
Zuckerwürfel. Die Zahl der Neuerkrankungen ging bis Ende der
sechziger Jahre rapide zurück, die Impfkampagne ging weiter: Schluckimpfung ist süß, Kinderlähmung ist grausam war der Slogan
und auf dem Schulhof ärgerten wir uns mit Sätzen wie: das ist
Dagmar, 12, nicht geimpft oder so.
Heute kommt Polio in Deutschland nicht
mehr vor. Die Krankheit gilt als besiegt. „Jeder“, sagt der Duisburger
Kinderarzt Dr. Peter Seiffert, „kannte jemanden in seiner
Verwandtschaft oder unter seinen Freunden, der auf irgendeine Weise
betroffen war. Man sah die Kinder, die langzeitbeatmet werden mussten
oder auf andere Weise behindert waren.“ Polio war eine sichtbare
Bedrohung in der Öffentlichkeit. Das wir heute kaum mehr betroffen
sind - dafür haben Zehntausende mit ihrer Gesundheit bezahlt.
Dass die Krankheit im Alltag nicht mehr wahrnehmbar ist heißt aber nicht, dass sie uns nicht mehr bedroht. Heute leisten wir uns – bislang
folgenlos - in einem trügerischen Gefühl von Sicherheit einen recht
nachlässigen Umgang mit der Impfung, sagt Dr. Peter Kaup, Hausarzt
in Oberhausen. Impfpässe gerade bei Erwachsenen zeigten große
Lücken. 2014 untersuchte vorsorglich das Robert-Koch-Institut
Flüchtlingskinder, die aus Syrien nach Deutschland gekommen waren
auf den Erreger - glücklicherweise ohne Befund. Wie schon einmal zuvor in Bosnien hatte ein Krieg
die Impfprogramme unterbrochen und es waren wieder in diesen Ländern einzelne Fälle
von Polio aufgetreten. Infizierte müssen nicht einmal selbst
erkranken oder Symptome haben, um das Virus zu verbreiten. In
unserer Gesellschaft trifft es auf ein möglicherweise nicht mehr
ausreichend geschütztes Kollektiv, sagt Susanne Glasmacher vom RKI,
wie auch bei Masern haben wir den Herdenschutz vernachlässigt. Was
genau das bedeutet, wie es funktioniert und welche Folgen das hat
zeigt ganz anschaulich diese Animation auf den Seiten der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Das aber beim Ausbruch in Berlin gerade viele Erwachsene nicht nur betroffen sind sondern sogar die Mehrzahl der Fälle stellen, die in Kliniken behandelt werden müssen, mag an dem mangelnden Schutz liegen: in der Gruppe der 30-39jährigen, so Glasmacher, gelten ganz unabhängig von irgendwelchen Überzeugungen nur 46,7 Prozent als hinreichend geimpft.
Dieses Modell trifft sich mit einem
anderen, hat eine Schnittmenge mit einem fundamentalen Prinzip
unserer Gattung – des Nestschutzes, ein Antikörper-Reservoir, dass Neugeborene von ihren Müttern zunächst über die Plazenta dann –
im Idealfall - die Muttermilch mitbekommen und das sie in den ersten
Monaten vor Erkrankungen schützt. Eine Mutter, die selbst aber weder
die Masern hatte noch sich hat impfen lassen, gibt ihrem Kind den
Schutz vor diesem Virus nicht mit.
Der Masernausbruch in Duisburg 2006
zeigte, so Dr. Peter Seiffert, dass gerade die Gruppe der unter elf
Monate alten kranken Babys (bis zu diesem Alter, so der Mediziner,
sind Impfungen nicht aussichtsreich, weil offenbar die Immunreaktion
zu schwach ist) die schlimmsten Folgeerkrankungen bis zur immer
tödlich verlaufenden SSPE, einer Hirnerkrankung, erleidet. Diese
Kinder sind ganz besonders darauf angewiesen, in einem Kollektiv zu
leben, in dem immunisierte Menschen es wie ein beschützender Ring
umgeben und so vor einer Ansteckung bewahren. Wer sich gegen eine
Impfung entschieden hat, sollte also mindestens ein Jahr warten,
bevor er sich und sein Kind in Kontakt mit Gleichgesinnten bringt und sich versichern, dass sein direktes
Umfeld eine andere Meinung hat als er selbst und auch danach gehandelt hat – also
geimpft ist. Tatsächlich,
sagt Kinderarzt Seiffert, ist „die Gefahr groß für die Kleinen“.
Ob eine Impfpflicht möglicherweise
rasch etwas ändert ist eher zweifelhaft. Es gibt Bedenken an der
Rechtmäßigkeit einer solchen Regelung und auch Ärzte wie Dr. Peter
Kaup lehnen eine Vorschrift aus grundsätzlichen Erwägungen ab. Sie
setzen auf Aufklärung und Einsichtsfähigkeit: da die Menschheit das
einzige Reservoir für das Virus ist, läßt sich die Krankheit
besiegen, die Nebenwirkungen der Impfung sind marginal, die
Geschichte vom Autismus aufgrund des dreifach Präparats
(Masern-Mumps-Röteln) längst widerlegt und sogar als von privatem
Interesse getriebene Horrorgeschichte eines Mannes entlarvt, dem
inzwischen die ärztliche Zulassung entzogen ist: „Wir impfen
unsere Hunde und Katzen, warum also nicht uns?“
Das sind die Fakten, ein anderer Satz
von Kinderarzt Peter Seiffert aber klingt bei mir besonders nach:
„Eltern treffen eine Entscheidung, deren Folgen nicht sie sondern
das Kind tragen und möglicherweise erleiden muß.“ Offenbar falle
es manchen leichter, selbst die schlimmste schicksalhaft auftretende
Krankheit auszuhalten als die „dumpfe Angst“, wie er sagt, zu
besiegen, das Auftreten einer extrem unwahrscheinlichen Nebenwirkung
zu verantworten.
Im Vermeidbaren allerdings steckt
nichts Schicksalhaftes mehr; kein Kind muß das Risiko ertragen,
einer jener etwa 1000 Masern-Kranken zu werden, die schwerste Schäden
bis zum Tod davontragen.
Durch Impfungen vor Krankheiten geschützt zu sein, bezeichnen die Vereinten Nationen als Grundrecht aller Kinder. Dass es laut einer Veröffentichung zum Versorgungsatlas der Kassenärztlichen Vereinigung (s. 15) offenbar einen Zusammenhang zwischen niedriger Impfquote und beruflich hoch qualifizierten Müttern (bei hoch qualifizierten Vätern steigt laut des Berichts die Quote; man könnte nun über möglicherweise tagelang nörgelnde, fiebrige Kinder während der erwünschten Immunreaktion nachdenken) ist da nur eine ganz erstaunliche Facette, in einem Verhalten, das Kinderarzt Seiffert bei den Dreharbeiten für einen Beitrag in der Aktuellen Stunde des WDR einfach „gemein“ nennt.
Durch Impfungen vor Krankheiten geschützt zu sein, bezeichnen die Vereinten Nationen als Grundrecht aller Kinder. Dass es laut einer Veröffentichung zum Versorgungsatlas der Kassenärztlichen Vereinigung (s. 15) offenbar einen Zusammenhang zwischen niedriger Impfquote und beruflich hoch qualifizierten Müttern (bei hoch qualifizierten Vätern steigt laut des Berichts die Quote; man könnte nun über möglicherweise tagelang nörgelnde, fiebrige Kinder während der erwünschten Immunreaktion nachdenken) ist da nur eine ganz erstaunliche Facette, in einem Verhalten, das Kinderarzt Seiffert bei den Dreharbeiten für einen Beitrag in der Aktuellen Stunde des WDR einfach „gemein“ nennt.
Zuletzt sah ich ein Kind mit Polio während einer Reportagereise 2010 im Norden Pakistans. Ein
Junge, vielleicht 12, 13 Jahre alt, der in Nowshera mit den typischen Prothesen und Krücken über
die Straße ging, während wir auf dem Weg ins Swat-Tal waren; soviel
unnötiges Leid, soviel unnötig zerstörte Träume. Den Widerstand
gegen Impfprogramme betreiben dort Taliban-Terroristen.
Aus den Tagen meiner Masernerkrankung
erinnere ich mich an noch etwas; ich nahm die Zeitung immer wieder
zur Hand und schlug hoffnungsvoll die Seite mit dem Foto von
Karlheinz Köpke auf. Es war wie eine Verheißung, ein Tor in eine
geheimnisvolle Realität. Doch er sprach nie mehr mit mir; damals war
ich entäuscht, heute weiß ich, dass ich dankbar sein sollte.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen